„Darfs noch was sein?“ Der Barkeeper nahm das leere Glas vom Tresen.

„Dasselbe noch mal.“ Karsten Korten-Rhyhoff beugte sich ein wenig vor. Nur wer genau hinschaute, konnte erkennen, dass er schon einiges getrunken hatte. „Diesmal aber ohne Eis.“

„Sehr wohl.“ Gut geschult, wie der Barmann des Fünf-Sterne-Hotels war, verkniff er sich jede Bemerkung. Außerdem – was sollte es, wenn er Fragen stellte? Die Antworten waren ja doch meist dieselben: Ärger mit der Ehefrau oder der Geliebten. Frust pur, der runtergespült werden musste. So, wie es auch dieser Gast tat, der seit drei Stunden an der Bar saß, immer wieder mal auf seine Uhr schaute, dann das Mobiltelefon aus der Tasche zog und seine Mailbox abfragte. Die Antwort schien ihn immer aufs neue zu deprimieren.

Karsten trank den alten Scotch wie Wasser. Das leichte Brennen in der Kehle, das ihm sonst ein so angenehmes Gefühl von Wärme vermittelte, wollte sich einfach nicht einstellen.

Karsten war sauer. Stocksauer.

Was dachte sich Elaine nur dabei, ihn so einfach zu versetzen? Seit gestern wartete er hier auf sie. Aber sie kam einfach nicht. Und wenn er versuchte sie zu erreichen, konnte er seine mehr oder weniger wütenden Nachrichten nur auf die Mailbox sprechen.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sie sich endlich meldete. „Was soll der Terror?“, fauchte sie Karsten an. „Ich hab mich verspätet, davon geht schließlich die Welt nicht unter, oder?“

„Ich hab meine Zeit nicht gestohlen“, gab er zurück. „Und wenn ich extra deinetwegen hierher fliege, kann ich erwarten, dass du da bist.“ Nur mit Mühe konnte er diese Sätze flüssig formulieren. Die letzten beiden Drinks, das erkannte er noch, waren entschieden zu viel gewesen.

„Nicht nur du arbeitest, mein Lieber. Und wenn ich eins hasse, dann sind das Möchtegern-Machos. Auf solche Typen kann ich verzichten. So long.“ Und das Gespräch war beendet.

Fluchend verließ Karsten die Bar. Draußen wehte eine angenehme Brise. Von einer Disko schräg gegenüber wehten Musikfetzen herüber. Ein paar Mädchen standen herum, flirteten mit gut gebauten jungen Männern.

„Hey, komm mit an den Strand! Wir machen eine Midnight-Party!“ Eine kleine Schwarzhaarige mit großen Kirschenaugen kam auf ihn zu und schmiegte sich an ihn. „Kauf eine Flasche und komm mit.“

Karsten zögerte, dann ließ er sich von dem fremden Mädchen mitziehen. Die viel zu vielen Drinks machten es ihm unmöglich, logisch zu denken – und Skepsis diesen Fremden gegenüber zu empfinden.

Als er erwachte, fühlte er sich wie zerschlagen. Im wortwörtlichen Sinn. Alles tat ihm weh, der Schädel dröhnte. Nur mit Mühe konnte er den Kopf heben. „Elaine, Liebling … warum hast du das getan?“

„Machen Sie die Augen mal richtig auf“, forderte eine energische Stimme. Karsten kam der Aufforderung nach – und glaubte im nächsten Moment an eine Halluzination.

„Was machen Sie denn hier?“

„Ich lese Strandgut auf“, kam es ironisch zurück. „Wie geht’s Ihnen? Haben Sie Schmerzen?“

„Mein Kopf …“ Er versuchte sich aufzurichten.

Bettina beugte sich über ihn. „Der Kopf scheint o. k. zu sein – wenn man von dem gehörigen Kater absieht, denn Sie sicher haben.“ Sie konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen, obwohl der Anblick des Mannes sie im ersten Moment entsetzt hatte. Eine Platzwunde an der Schläfe hatte sein Gesicht zum Teil mit Blut verschmiert. Das Hemd war an der Schulter zerfetzt, das linke Hosenbein voller Blut.

„Sie sind verletzt.“ Bettina kniete sich in den noch kühlen Sand und versuchte nach dem Bein zu tasten.

„Lassen Sie das. Ich komm allein zurecht.“ Mühsam rappelte Karsten sich hoch – um in der nächsten Sekunde mit einem unterdrückten Schmerzenslaut zurückzusinken. „Verdammt, was ist das?“

„Lassen Sie mich mal sehen.“

„Nein!“

„Stellen Sie sich doch nicht so an! Ich will Ihnen doch nur helfen. Oder soll ich gehen und Sie hier allein liegen lassen.“ Sie machte eine vage Handbewegung. „Niemand weit und breit zu sehen. Aber wenn Sie wollen …“

„Nein. Bleiben Sie schon.“ Er zog selbst das Hosenbein etwas hoch – und atmete schneller. Eine tiefe Risswunde zeigte sich am Schienbein. „Verdammt …“

„Wie haben Sie das denn angestellt?“

„Keinen Schimmer.“

Bettina sah sich die Verletzung näher an. „Das muss desinfiziert werden. Sie sind hoffentlich gegen Tetanus geimpft.“

„Klar doch“, versicherte Karsten – obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte. Wenn er nachher in seinem Hotelzimmer war, wollte er sofort in den Papieren nachsehen.

„Ich helfe Ihnen auf. Und dann sollten Sie zum Arzt gehen.“

„Ach was“, wehrte Karsten ab, „das verheilt von allein.“

Das allerdings stellte sich rasch als Irrtum heraus, denn kaum hatten sie ein paar Meter zurückgelegt, brach die Wunde wieder auf und begann zu bluten.

„Mein Hotel ist gleich dort, hinter der großen Hibiskushecke. Kommen Sie mit, ich verbinde Sie provisorisch, und dann müssen Sie sich in ärztliche Behandlung begeben.“

Was blieb ihm anderes übrig, als genau das zu tun, was sie vorschlug? Karsten fühlte sich elend, das Bein schmerzte höllisch, und er fragte sich verzweifelt, wie er sich diese Wunde überhaupt zugezogen hatte. Bei einem Kampf mit den Typen, die ihn überfallen hatten? Oder war alles nur ein übermütiges Partygeplänkel gewesen, das dann unter Alkoholeinfluss ausgeufert war?

Er hätte viel drum gegeben, wenn er darauf eine Antwort gewusst hätte.

Erst als sie im Hotel angekommen waren und Bettina ihm auf eine Liege auf der Terrasse geholfen hatte, kehrten seine Lebensgeister zurück. „Danke für die Hilfe, aber ich denke, jetzt komme ich allein klar. Wenn Sie ein Taxi für mich rufen würden, fahre ich in mein Hotel und …“

„Erst verbinde ich Sie.“ Ein ironisches Glitzern trat in ihre Augen. „Keine Sorge, ich hab einen Erste-Hilfe-Kurs belegt. Vielleicht hab ich nicht so zarte Hände wie Ihre Elaine, aber für einen Notverband reicht es.“

„Wer redet denn hier von Elaine?“

„Sie. Wenn auch im Tran.“

„Das … das verbiete ich mir.“

Bettina zuckte nur mit den Schultern und verschwand im Gebäude. Als sie wenig später zurückkehrte, hatte sie sich eine dünne Bluse übergeworfen und trug eine Kanne mit Kaffee in der Hand. „Den Rest Frühstück können Sie ja dann mit Elaine einnehmen. Das hier ist nur fürs Wecken der Lebensgeister. Und das hier gegen die Schmerzen.“ Sie reichte ihm zum Kaffee zwei Schmerztabletten.

„Danke.“ Er trank den heißen Kaffee, schluckte die Tabletten und fühlte sich gleich besser. Nicht einmal den Schmerz, der durch seinen Körper zuckte, als Bettina jetzt mit dem Desinfizieren und Verbinden der Beinwunde begann, nahm er so richtig wahr. Das lag allerdings nicht an der sensationell schnellen Wirkung der Tabletten sondern an seiner schönen Samariterin.

Erst jetzt, da sie ganz dicht vor ihm kniete und ihn verarztete, bemerkte er den sanften Schimmer ihrer Haut. Ihre Wimpern warfen Schatten auf die leicht gebräunten Wangen. Die Haare waren zwar im Nacken zusammengebunden, doch ein paar lockige Strähnchen hatten sich gelöst und ringelten sich um das aparte Gesicht.

Und jetzt ihre kleine Zunge … sie lugte hin und wieder vorwitzig hervor, wenn die junge Frau sich – so wie jetzt, da sie den Verband befestigte – konzentrierte.

Immer wieder musste Karsten auf diese Zungenspitze – und den sanft geschwungenen Mund sehen!

„Hey, stillhalten!“ Die Stimme war alles andere als sanft.

„Schon gut. Machen Sie nicht so viel Aufhebens um den Kratzer.“

„Gut. Dann sehen Sie doch zu, wie Sie zurechtkommen.“ Mit einem Ruck stand Bettina auf, raffte das Verbandsmaterial zusammen und ging zur verglasten Tür, die ins Innere ihres kleinen Hotels führte. Die Hotelanlage war nicht zu vergleichen mit dem Prachtbau, in dem Karsten logierte, aber alles wirkte sehr gemütlich und gepflegt. Links von der Terrasse rankten sich zwei alte Bougainvilleasträucher an einer hellen Wand empor, ihre lilafarbenen Blüten rieselten wie Kaskaden bis zum Boden.

In Terrakottakübeln wuchsen Wandelröschen und weiße Petunien, flankiert von hellroten kleinen Hibiskussträuchern.

Die wenigen Liegen, die unter der Terrasse standen, waren mit weiß-gelben Auflagen belegt. Genau darauf lehnte sich Karsten jetzt zurück und schloss die Augen. Ihm war ein bisschen schwindelig geworden, und die beiden Stiche, die wie Dolchstöße durch seinen Körper schossen, ließen ihn erkennen, dass die Beinwunde doch nicht so harmlos war, wie er gern angenommen hätte.

„Verdammter Mist!“, zischte er.

Bettina, schon an der Tür, drehte sich kurz um. „Schmerzen?“, fragte sie bissig.

„Ja. Zufrieden?“

„Warum sollte mich das zufrieden stellen?“ Sie kam zu ihm zurück, sah ihn forschend an. Und jetzt war wieder dieser samtdunkle Glanz in ihren Augen, der ihn schon beim ersten Sehen so fasziniert hatte. „Sagen Sie mal, für wen halten Sie mich eigentlich?“

„Ich … na ja, zurzeit für meine Samariterin.“ Er versuchte sich an diesem verführerischen Lächeln, mit dem er normalerweise bei den Frauen viel Erfolg hatte. Aber entweder war es noch zu früh am Tag und er zu verkatert oder Bettina war immun gegen seinen Charme.

„Ich denke, Sie sollten sich ein bisschen menschlich machen und dann zum Arzt fahren. Die Wunde muss fachmännisch behandelt, vielleicht sogar genäht werden, wenn sie nicht immer wieder aufreißen soll.“

„Kommen Sie mit?“ Bittend sah er sie an. Und ob sie wollte oder nicht – tief im Innern schmolz Bettina dahin. Dieser Mann hatte etwas, das sie berührte. Mal reizte er sie bis aufs Blut, dann hätte sie ihn ebenso gern zusammengeschrieen wie ignoriert, dann wieder ließ er ihr Herz einen Schlag schneller pulsieren.

„Ihre Freundin Elaine eignet sich sicher auch gut zur Krankenschwester. So ein Häubchen putzt ungemein“, fügte sie ironisch hinzu.

Geplatzt! Die friedliche Atmosphäre, die für einen Moment zwischen ihnen geherrscht hatte, war zerstoben wie eine Seifenblase.

„Ich will Ihnen keineswegs länger als nötig zur Last fallen“, erklärte Karsten steif und versuchte sich aufzurichten. „Danke nochmals für Ihre Hilfe. Sicher komme ich jetzt allein zurecht.“

„In Ordnung.“

Als er stand, schwankte er leicht – und spontan streckte ihm Bettina die Hände entgegen. Karsten grinste verhalten. Na also, es funktionierte ja doch noch, das alte Spiel! So, als suche er Sicherheit, zog er Bettina ein bisschen näher zu sich heran. Er roch den Duft ihres Haares, spürte ihre Haut auf seiner Haut.

„Guten Morgen! Kann ich helfen?“ Eine junge Portugiesin kam zur Terrasse, mit Wischlappen und einem Besen bewaffnet.

Freundlich sah sie von Karsten zu Bettina – und ahnte nicht, dass sie von beiden in diesem Moment zum Teufel gewünscht wurde.

Bettina fing sich als erste. „Wir brauchen bitte ein Taxi, das den Herrn hier zum Arzt bringt. Er hat sich verletzt.“

„Ich sage sofort an der Rezeption Bescheid, dort wird man Ihnen ein Taxi rufen.“

„Danke.“ Bettina lächelte dem Mädchen zu, Karsten nickte nur knapp.

Während sie auf das Taxi warteten, fragte Bettina: „Haben Sie sich endlich dran erinnert, wie Sie an den Stand und zu den Verletzungen gekommen sind? Hat man Sie überfallen? Fehlt Ihnen Geld?“

Verflixt, daran hatte er noch gar nicht gedacht! Sein Blick ging zum linken Handgelenkt – die Uhr fehlte! Zum Glück war es nicht die wertvolle alte Patek Philippe, die ihm sein Großvater zum 21. Geburtstag geschenkt hatte. Die zog er nur selten auf Reisen an. Die sportliche Cartier war zu ersetzen, wenn der Verlust auch nicht so einfach zu verschmerzen war. Und auch seine Geldbörse – wohlweislich auch nur mit wenig Bargeld bestückt – war verschwunden.

„Diese Clique am Strand … die haben mich ausgenommen.“

„Da hat Elaine wohl nicht aufgepasst“, lästerte Bettina. Warum sie so gereizt und bissig reagierte, hätte sie nicht zu sagen gewusst. Aber die Tatsache, dass Karsten gleich nach dem Aufwachen aus seiner Betäubung den Namen des Models geflüstert hatte, fuchste sie zutiefst.

Warum? Nein, besser nicht darüber nachsinnen!

„Lassen Sie doch Elaine aus dem Spiel!“

„Ich hab sie nicht reingebracht. Und spielen tun wir beide nun wirklich nicht miteinander.“

Er nahm ihre Hand, hob sie kurz an die Lippen. Aber noch ehe er einen Kuss darauf hauchen konnte, zog Bettina ihre Finger zurück, als hätte sie sich verbrannt. „Nein, ein Spiel ist es nicht. Den Eindruck hab ich auch“, sagte Karsten.

Und dann fuhr das Taxi vor – zum Glück. Es enthob Bettina der Notwendigkeit, ihm auf diese Unverschämtheit eine Antwort zu geben. Als sie zurück ins Hotel ging, wünschte sie sich, Karsten Korten-Ryhoff nie wiederzusehen! Ein Mann, der so viel Unruhe in ihr Leben brachte, war so überflüssig wie ein Sturmtief bei Fotoaufnahmen in der Sahara.

+ + +

„Wo ist der Chef?“ Schwungvoll und mit einem Lächeln auf den Lippen kam Annette Berger ins Vorzimmer.

„Seit Tagen nicht auffindbar. Ich hab schon mehrfach versucht, ihn anzurufen – er meldet sich nicht.“ Karin Habermann schob mit einer schnellen Geste ihre Lesebrille aufs Haar. Ihre Stimme klang spitz und ein wenig beleidigt. Seit fast zwanzig Jahren arbeitete sie jetzt schon für KORY – erst für Karstens Vater, dann für ihn, den ehemaligen „Junior“. Immer hatte sie geglaubt, die Vertraute der Firmeninhaber zu sein. Aber seit einiger Zeit war das anders. Karsten, den sie seit seiner Jugend kannte, verriet ihr nicht mehr alles, was er tat und plante. „Es ist gut, dass Sie wenigstens wieder da sind. Wie wars denn in Paris?“

Ein verträumtes Lächeln glitt über Annettes Gesicht. „Einfach wunderbar.“

„So? Was ist an einem Shooting wunderbar?“

Die Direktrice lachte. „Die Zeit danach, Karin. Die Zeit danach!“

„Aha.“

Annette zwinkerte ihr zu. „Glauben Sie’s oder glauben Sie’s nicht, Habermännchen – es hat mich erwischt.“

„Was?“

„Die Liebe! Ich hab mich Hals über Kopf verliebt.“

„Was Sie nicht sagen!“ Karin Habermann runzelte die Stirn. Sie selbst lebte seit einer Ewigkeit mit ihrer Tante Ellen zusammen. Die hatte sie aufgezogen nach dem viel zu frühen Tod der Eltern. Und so war Karin einfach verpflichtet gewesen, sich um die gehbehinderte Tante zu kümmern, als diese nicht mehr allein ihren Haushalt versorgen konnte. Einen Mann hatte es in diesem Haushalt nie gegeben – und Karin vermisste auch keinen Partner. Sie hatte zwei Hunde und einen alten Wallach, der draußen vor der Stadt bei einem Bauern sein Gnadenbrot bekam. Die Tiere waren ehrlich und treu, enttäuschten einen niemals. Das hatte ihr Tante Ellen schon frühzeitig beigebracht. Und Karin sah keinen Anlass, an dieser Einstellung zu zweifeln oder ihr Leben gar zu ändern.

Wenn andere allerdings unbedingt Männerstress haben wollten – bitte sehr.

„Kenne ich das Wunderwesen schon?“, fragte sie höflichkeitshalber.

„Nein. Er ist nicht aus der Branche.“

„Wenigstens etwas.“

„Habermännchen, Sie können einen wirklich aufbauen. Aber jetzt mal im Ernst: Wo ist Karsten? Ich muss ihm einiges sagen. Es ist immens wichtig.“

„Sorry, er ist wirklich untergetaucht. Seit fast zwei Tagen versuche ich ihn schon zu erreichen, aber er meldet sich nicht. Nur einmal hatte ich eine kurze Nachricht hier auf der Mailbox, dass er für eine knappe Woche privat unterwegs sei. Bei allen wichtigen Entscheidungen seien Sie zu kontaktieren. – Das wars.“

„Mit dieser Elaine treibt er sich wahrscheinlich rum! Himmel noch mal, dieses Biest hat ihn ganz schön an der Angel!“

„Warum solls ihm besser gehen als den meisten anderen Männern? Der Ihre ist doch sicher auch happy, oder?“

„Stimmt. Ist er. Aber er hängt nicht an meiner Angel.“

„Nein?“ Das verhaltene Lächeln spiegelte Skepsis, aber auch Ironie wieder.

Annette zog es vor, das Büro von Karin Habermann wieder zu verlassen. Die hatte heute wohl nicht ihren besten Tag.

Als sie in ihr Büro kam, leuchteten ihr gelbe Rosen entgegen.

„Die hat eben ein Blumenbote für Sie abgegeben“, erklärte ein junges Mädchen, das seit einem Monat ein Praktikum bei KORY-Moden machte und in Annettes Abteilung als „Mädchen für alles“ eingesetzt wurde.

„Danke.“ Annette setzte sich und griff nach der Karte, die dem Strauß beigefügt war.

Für meine Traumfrau – damit Du mich nicht vergisst. Ich freu mich auf das Wochenende und unser Wiedersehen – Andreas

„Dieser verrückte Kerl“, flüsterte Annette. Es war gerade mal zwei Stunden her, dass sie sich getrennt hatten, und schon verwöhnte er sie mit Aufmerksamkeiten.

Für eine Weile gestattete es sich Annette Berger, versonnen auf die wunderbaren Rosen zu sehen. Dann aber griff sie energisch zu der ersten Unterschriftenmappe, die schon auf ihrem Tisch lag. Danach kam eine Unterredung mit der Leiterin der Schneiderei, dann zwei kurze Anrufe in München und in Mailand, wo Zulieferbetriebe leider nicht pünktlich arbeiteten.

Und während sie telefonierte, dachte sie: Verdammt, Karsten, das wär eigentlich dein Job gewesen! Wieso hast du dich nicht wenigstens vorher mit mir abgestimmt, bevor du dir einfach frei genommen hast?

Aber es war müßig, jetzt noch zu jammern. Sie stürzte sich mit gewohntem Elan in die Arbeit, und ehe sie es sich versah, war es zwanzig Uhr abends.

Gerade studierte sie ein paar Entwürfe für sportlich-elegante Herbstkostüme, als das Telefon klingelte. Annette runzelte die Stirn. Sie wollte jetzt nicht gestört werden! Schnell vervollständigte sie noch zwei Zeichnungen – skizzierte hier einen eleganteren Faltenwurf, schraffierte dort einen Pelzkragen, der dem Modell noch mehr Pfiff verleihen sollte.

Wieder Telefonterror!

„Ja bitte!“ Ihre Stimme verriet deutlich ihren Unmut.

„Hier ist ein Herr – er wartet jetzt schon eine Stunde auf Sie.“ Der Pförtner klang ein wenig unsicher.

„Wer ist es denn?“

Eine kleine Pause, dann eine warme dunkle Stimme, durch die ein Lächeln schwang: „Ein Mann, der Hunger hat und dem es ohne deine Begleitung nicht schmeckt!“

„Andreas! – Waren wir verabredet?“

„Das nicht. Aber ich bin sicher, dass du auch Hunger hast. Und dich so sehr nach mir sehnst wie ich mich nach dir.“ Wieder ein kleines Lachen. „Sag jetzt nur nicht nein, dann nähmst du mir alle Illusion.“

„Ich … ich stecke noch mitten in der Arbeit.“

„Hat die Beine?“

„Wie … wie meinst du das?“

„Sie läuft dir sicher nicht davon, deine Arbeit. Also, lass es gut sein für heute und komm mit. Ich hab in einem kleinen Lokal am Hafen einen Tisch für uns bestellt.“

„Ich …“ Annette biss sich auf die Lippen. „Ich bin gar nicht darauf eingestellt.“ Instinktiv griff sie sich ans Haar und machte sich bewusst, dass sie eigentlich dringend zum Frisör müsste. Und ihr Outfit … na ja, das ging so.

„Ich bin in zehn Minuten da“, sagte sie in den Hörer. Und dann lief sie aufgeregt von einem Platz zum anderen – kämmen, Make up erneuern, Parfüm aufsprühen, eine frische Bluse aus der Kollektion des letzten Sommers nehmen … sie lachte über sich selbst, weil sie sich wie ein Teenager benahm. Aber war sie nicht wirklich so verliebt wie einst als Siebzehnjährige?

„Nein“, sagte sie leise vor sich hin, während sie zum Ausgang ging, „heute ist es viel, viel schöner: Und aufregender!“

Der Begrüßungskuss ging unter die Haut. Und Andreas’ Arm, der sich auf dem kurzen Weg zu seinem Wagen um sie legte, war schon unendlich vertraut.

„Wunderschön ist es hier.“ Sie sah sich in dem kleinen, gemütlich eingerichteten Lokal um. Hellgelber Damast auf den Tischen, Bienenwachskerzen in kleinen silbernen Leuchtern. Von ihrem Platz aus hatte man einen ausgezeichneten Blick über den Hafen mit seinen gigantischen Anlagen. „Ich war noch nie hier.“

„Insidertipp“, lachte Andreas. „Nichts für Promis.“

„Das bin ich ja auch nicht.“ Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Aus seinem Mund hörte sich das Wort „Promi“ wie ein Schimpfwort an.

„Nein, bist du nicht. Du lebst nur in einer anderen Welt als ich. Aber dennoch … ich weiß, dass wir zusammen gehören.“

Sie nickte nur – und sah überrascht zu dem Kellner hoch, der soeben Champagner brachte. „Auf unseren ersten gemeinsamen Tag in Hamburg“, lächelte Dr. Andreas Fabian und trank ihr zu.

„Auf uns.“

Bei der Menüauswahl waren sie sich rasch einig – Scholle Finkenwerder Art, dazu tranken sie einen trockenen Riesling von der Nahe.

„Erzähl“, forderte Andreas, als sie die Vorspeise gegessen hatten. „Wie war dein Tag?“

„Das übliche Chaos. Aber es gab nichts Weltbewegendes – wenn man von der Tatsache absieht, dass sich mein Chef in Luft aufgelöst hat. Sicher ist er mit dieser Elaine unterwegs.“

„Du magst sie nicht?“

„Ehrlich gesagt – nein. Sie ist keins dieser Mädchen, die einen Flirt mit einem Modehaus-Besitzer als Sprungbrett ansehen würden. Dazu ist sie zu clever – und schon viel zu gut im Geschäft. Nein, sie will mehr. Sie will alles.“

„Und das gefällt dir nicht.“

„Es wäre nicht gut. Nicht für Karsten und nicht für die Firma. Elaine ist eiskalt und berechnend. Das hat er nicht verdient. Aber jetzt lass uns nicht mehr über KORY-Moden sprechen. Wie war denn dein erster Tag in der Klinik?“

Dr. Fabian, Herzchirurg an einer namhaften Hamburger Klinik, zuckte nur mit den Schultern. „Bürokram hauptsächlich. Morgen stehen zwei größere Operationen an. Aber im Grunde ist das auch Routine.“

Annette hatte schon herausgefunden, dass er nicht allzu gern über sich, seine Patienten und die Klinik sprach. Ein weiterer Pluspunkt, denn ihm war offensichtlich das Arztgeheimnis heilig.

Als es am Nebentisch unruhig wurde, sahen sie zunächst diskret, dann alarmiert hinüber. Eine ältere Dame hing halb ohnmächtig in ihrem Stuhl. Ihr Begleiter bemühte sich angestrengt um sie, hatte aber offensichtlich kein Erfolg.

„Entschuldige mich …“ Schon war Andreas aufgestanden. „Ich bin Arzt“, stellte er sich am Nebentisch kurz vor. „Kann ich helfen?“

„Meine Frau …“ Die Hand des Mannes, die ein Fläschchen umklammert hielt, zitterte. „Sie hat einen Herzanfall. Das Nitro hilft diesmal nicht.“

Andreas Fabian zögerte nicht länger. „Einen Notarztwagen“, flüsterte er dem Kellner zu, der neben ihn getreten war. „Schnell.“

Er selbst versuchte die Kranke zu beruhigen, bettete sie ein wenig bequemer und tastete nach ihrem Puls. Die Werte, die er so feststellen konnte, waren alarmierend.

Annette sah ihn fragend an, doch er schüttelte nur den Kopf. Er wollte wohl keine Erklärung abgeben, um die beiden älteren Herrschaften nicht unnötig zu beunruhigen.

Zum ersten Mal erlebte Annette den geliebten Mann in seiner Eigenschaft als Arzt. Er wirkte ernst, konzentriert, souverän. Es beeindruckte sie, dass er so viel Ruhe ausstrahlte – die sich sichtlich auf die Kranke und ihren Begleiter übertrug. Als der Notarzt kam, wechselten die beiden Mediziner ein paar Sätze, dann wurde die Kranke abtransportiert.

„Was geschieht mit ihr?“, wollte Annette wissen, als Andreas wieder bei ihr saß.

„Ich denke, das war ein massiver Infarkt. Ich hab aber nichts gesagt, damit sie sich nicht noch mehr aufregt. Der Kollege war meiner Meinung. Zum Glück kann ihr jetzt sehr schnell und wirkungsvoll geholfen werden.“

Die romantische Stimmung, die eben noch zwischen ihnen geherrscht hatte, war dahin. Annette wirkte ein bisschen verstört.

Liebevoll nahm Andreas ihre Hand in seine. „Damit musst du dich abfinden“, sagte er. „Es gehört zu meinem Leben – das Helfen ebenso wie das Erkennen, dass man nicht immer helfen kann. Wir sind endlich. Wir alle.“ Er küsste ihre Hand. „Umso wichtiger ist es, sich die Tage hier auf dieser schönen Welt so erfüllt wie möglich zu machen. Willst du sie mit mir zusammen gestalten, die Tage hier auf dieser wunderbaren Welt?“ Sein Lächeln ging ihr wieder unter die Haut, so wie beim ersten Sehen in Paris.

Nur einen kleinen Moment zögerte sie, dann nickte sie zustimmend.

„Darauf sollten wir unbedingt noch ein Glas Champagner trinken.“

„Ich hab schon genug.“

„Ach was, so ein Schwips steht dir bestens!“

„Wenn du meinst … Du wirst sehen, was du davon hast!“

„Das werte ich als Versprechen!“, lachte Andreas.

+ + +

Elaine langweilte sich. Langweilte sich tödlich! Seit drei Tagen war Tom Archer in Ungarn, bereitete sich auf ein großes Rennen in Budapest vor, wobei er sie ganz offensichtlich nicht in seiner Nähe haben wollte. Sie selbst hockte allein in Monte Carlo. Niemand aus der Szene schien zurzeit hier zu sein. Die Stadt, sonst voll mit Promis, schien wie tot. Na ja, wenn man von den zahlreichen Touristen absah, die die Straßen bevölkerten und alles daransetzten, eventuell einen Blick auf ein Mitglied der Fürstenfamilie zu erhaschen …

Die Grimaldis interessierten Elaine absolut nicht. Sie war wütend und enttäuscht. Zwei Männer umwarben sie – und doch taten beide jetzt so, als gäbe es noch etwas wichtigeres als sie.

In ihrer Suite in einem der besten Hotels von Monte Carlo griff Elaine wieder einmal zum Handy, wählte Karstens Nummer – nur die Mailbox. So wie seit zwei Tagen.

Mit einem doppelten Gin-Tonic spülte Elaine ihre Enttäuschung erst mal hinunter. Dann versuchte sie Tom zu erreichen.

„Hallo?“ Das klang knapp und nicht sehr verbindlich.

„Darling! Was treibst du so?“

„Ich arbeite. Sorry, Elaine, aber es passt gerade gar nicht. Ich melde mich später, ja?“ Und schon hatte er sie abgehängt.

„Mistkerl!“ Das kleine Telefon landete in einer Zimmerecke. Wie immer, wenn sie gefrustet war, bekam Elaine Hunger. Aber diesem Gefühl durfte sie nicht nachgeben. Erst vor einer Woche hatte sie mit Entsetzen festgestellt, dass sie drei Kilo zugenommen hatte. Und nicht nur sie hatte es bemerkt, auch die Atelierleiterin von Ungaro. Stirnrunzelnd hatte sie es zur Kenntnis genommen, sich aber jede Bemerkung verkniffen. Ihr Blick aber hatte Bände gesprochen. Sie wird alt, hatte Elaine in diesem Blick zu lesen geglaubt. Alt und fett.

Nein, das durfte nicht sein! Dieser Hungerattacke würde sie auf keinen Fall nachgeben!

Mit zitternden Fingern kramte sie in ihrem Schminkkoffer. Da war das Päckchen. Gott sei Dank!

Kokain gehörte seit einigen Monaten zu Elaines Leben. Früher hatte sie nur mal zum Spaß gekokst, wie es so viele in der Branche taten. Aber jetzt … jetzt brauchte sie das weiße Pulver. Es heiterte auf, ließ wie durch ein Wunder den Appetit schwinden, machte die Welt ein wenig bunter, das Leben erträglicher. Von Einsamkeit konnte plötzlich keine Rede mehr sein.

Doch schon zehn Stunden später sah das anders aus. Wieder versuchte Elaine Tom anzurufen, doch er hatte sein Handy ausgeschaltet. Wahrscheinlich saß er wieder in seinem Rennwagen und testete die Strecke. Auch ein öder Job – wenn auch extrem gut honoriert, wenn man es on the top geschafft hatte wie Tom Archer.

„Dann eben Karsten“, murmelte Elaine.

„Korten-Ryhoff …“ Das klang nicht gerade frisch und dynamisch.

„Ich bins, Darling! Wo steckst du nur? Ich sitze hier nach einem Job in Monte Carlo und langweile mich zu Tode.“

„In Monte Carlo langweilst du dich?“

„Ob du’s glaubst oder nicht – ja. Alles ist ziemlich ätzend hier. Nichts los … und du fehlst mir schrecklich!“

Der Mann am anderen Ende streckte sich in seinem Bett aus. Ein kleines Lächeln glitt über sein Gesicht. Das tat gut! War wie Balsam!

„Dann komm doch her! Ich bin in Faro.“

„Die Algarve ist langweilig. Außerdem war ich da kürzlich doch erst. Nein, komm doch lieber her zu mir.“

„Mal sehen. Wenn ich mein Geschäft hier abgeschlossen habe … vielleicht lässt es sich übermorgen einrichten.“ Er schwang die Beine aus dem Bett und kratzte sich leicht über die dunklen Bartstoppeln.

„Quatsch, ich komm doch zu dir. Vielleicht kann ich dir sogar helfen. Mal sehen, ob ich noch für Mittag eine Maschine kriege. Bis dann! – Ach, eins noch: Wo logierst du?“

Mit Genugtuung hörte sie, dass es das beste Hotel von Faro war, in dem Karsten abgestiegen war. Na ja, was anderes hatte sie von ihm eigentlich auch nicht erwartet!

Wenn Elaine wollte, konnte sie unheimlich schnell sein. Die vier Koffer, die zu ihrer „Grundausstattung“ gehörten, waren mit Hilfe eines Zimmermädchens rasch gepackt. Das Flugticket wurde über die Rezeption gebucht und am Schalter in Nizza hinterlegt.

Am frühen Nachmittag war sie schon vor dem Flughafengebäude und sah stirnrunzelnd zu, wie sich der ältere Taxifahrer mit ihrem Gepäck abmühte.

„Passen Sie doch auf“, fauchte sie, als er einen der Louis Vuitton-Koffer fallen ließ.

„Ist ja nichts passiert“, gab er nicht weniger unfreundlich zurück – und wünschte sich insgeheim, dass der Zoll dieser arroganten Blondine möglichst viele Schwierigkeiten machen würde. Sie hatte Übergepäck, und wenn ihn seine Erfahrung nicht trog, waren außer Klamotten bestimmt auch ein paar verbotene Pillen in ihrem Gepäck.

Auch die Stewardess beim Einchecken runzelte die Stirn. „Das ist massives Übergepäck“, stellte sie fest.

„Das ist die Garderobe, die ich benötige. Ich bin Fotomodell.“ Elaine schüttelte die blonde Haarmähne in den Nacken. „Ich hab gedacht, wir sind inzwischen in einem vereinten Europa – zolltechnisch wohl noch nicht.“

„Ich habe meine Bestimmungen, das ist alles.“ Und dann tat die Stewardess ihre Pflicht, auch wenn Elaine lautstark ihr Missbehagen kundtat. Die junge Frau am Schalter lächelte berufsmäßig, wenn sie auch heimlich davon träumte, der anderen den Hals mit dem sündteuren Hermès-Tuch zuziehen zu dürfen. Solche Fluggäste nervten immer wieder, dabei war allen bewusst, dass Übergepäck angemeldet und bezahlt werden musste. Da gab es einfach keine Ausnahme.

„Vielleicht sollte ich mir das nächste Mal eine Privatmaschine mieten“, sagte Elaine. „Einer meiner Freunde stellt sie mir sicher gern zur Verfügung.“

„Das wäre ratsam“, gab die Stewardess ungerührt zurück. Dann wandte sie sich mit herzlichem Lächeln einem älteren Herrn zu, der in Begleitung eines jüngeren Mannes mit blendendem Aussehen reiste. An dem Business-Koffer, den er trug, war leicht zu erkennen, dass es sich um Geschäftsleute handelte.

So eine Ziege, dachte der junge Manager, der vor zehn Minuten noch bewundernd zu der blonden Schönheit hingeschaut hatte. Dieses arrogante Grinsen … sie kommt sich wie die Königin von Saba vor.

„Wer nicht wirklich etwas darstellt, muss die große Show abziehen“, sagte sein Großvater. „Da ist deine Tina doch eine ganz andere Frau.“

„Stimmt.“ Ein kleines Lächeln huschte über das gut geschnittene Männergesicht, und der Gedanke an seine zierliche, patente Verlobte ließ den jungen Mann Elaines schlechtes Benehmen rasch vergessen.

Elaines Laune besserte sich erst, als die Maschine in Faro gelandet war und sie ohne allzu große Schwierigkeiten den Zoll passiert hatte. In der Flughafenhalle sah sie sich suchend um – von Karsten keine Spur! Na ja, sie hatte ihre Ankunftszeit ja nicht ganz genau durchgegeben.

Mit einem Taxi fuhr sie zu Karstens Hotel. Er saß in der Halle und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

„Meine Schöne! Ich freu mich, dass du da bist.“

„Hattest du Sehnsucht nach mir?“ Kokett legte sie den Kopf ein wenig zur Seite. Eine Geste, die eigentlich viel zu neckisch war, um aufrichtig zu wirken, doch Karsten tat so, als würde er dieses alberne Benehmen nicht bemerken. Fest zog er Elaine an sich, küsste sie leicht und führte sie gleich hoch in seine Suite.

„Ich hab Champagner kalt stellen lassen. Und ein paar Kleinigkeiten zu essen. Du hast doch hoffentlich ein bisschen Appetit nach dem Flug?“ Er selbst hatte inzwischen wieder recht gesunden Appetit. Die ersten Stunden nach seiner durchzechten Nacht waren nicht gerade angenehm gewesen. Von dem recht heftigen Kater abgesehen ärgerte er sich insgeheim immer noch über Bettina. Mit jedem Blick, mit fast jedem Wort hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie sein Verhalten unmöglich fand.

Ach was! Er legte den Arm fester um Elaine. Was kümmerte ihn diese Fotografin? Sollte sie ruhig weiter die Störche an der Algarve und irgendwelche unwichtigen Pflanzen fotografieren –er hielt eine betörend schöne Frau im Arm. Was wollte er noch mehr?

„Was hast du gemacht ohne mich?“, fragte Elaine und schmiegte sich an ihn.

„Gearbeitet. Was sonst?“

„Armer Darling. Nur immer arbeiten ist doch furchtbar! Aber jetzt bin ich ja da, und ich weiß ein paar Dinge, wie wir uns die Zeit vertreiben können …“

Karsten grinste vielsagend. Und dann ließ sich die Zimmertür zur Suite nicht rasch genug öffnen. Leidenschaftlich hing sich Elaine an seinen Hals, und während sie mit ihrer Zunge seine Mundhöhle erforschte, glitten ihre Finger tiefer, öffneten erst die Hemdknöpfe, lösten dann die Gürtelschnalle.

Karsten seufzte unterdrückt auf, dann hob er die zarte Gestalt hoch und trug sie zum Bett. Mit wenigen raschen Griffen waren sie beide ausgezogen. Elaine war eine leidenschaftliche Geliebte, sie war raffiniert, spielte mit ihrem Partner, verstand es, immer aufs neue seine Leidenschaft anzustacheln.

Als sie schließlich ermattet und schwer atmend nebeneinander lagen, waren beide total erschöpft.

„Biest“, flüsterte Karsten nur.

„Darauf stehst du doch, gibs zu.“ Ihre Hand glitt spielerisch über seine Brust.

„Lass es, ich kann nicht mehr.“

„Wetten dass doch?“

„Nur nicht!“ Er erhob sich und goss Champagner nach. Insgeheim wunderte er sich, wie viel Elaine vertragen konnte. Sie, die kaum etwas aß, vermochte locker zwei Flaschen Champagner oder ein halbes Dutzend harte Drinks zu konsumieren. Gesund war das sicher nicht, doch Karsten hatte es inzwischen aufgehört, ihr Vorhaltungen zu machen. Elaine reagierte darauf stets beleidigt – oder, im schlimmsten Fall, mit einer lautstarken Szene.

Während er ihre knabenhaft schlanke Gestalt betrachtete, die nur halb von der Seidenbettwäsche bedeckt war, entstand auf einmal Bettinas Bild vor ihm. Sie war schlank, doch gut proportioniert. Weiblich. Verführerisch …

Himmel, was dachte er da?

„Ich geh mal ins Bad“, sagte er rasch.

„Gut …“ Elaine räkelte sich wieder nach dem Champagnerglas auf dem Nachttisch. Sie nahm einen Schluck, dann lauschte sie hinüber zum Bad. Ja, Karsten stand unter der Dusche.

Normalerweise wäre Elaine jetzt aufgestanden und zu ihm gegangen – Sex unter der Dusche war etwas besonders Erotisches in ihren Augen. Aber es gab etwas, nach dem sie zurzeit noch viel mehr gelüstete …

Schnell stand sie auf und ging hinüber in den Wohnraum. Wo war ihr Gepäck? Zumindest die Kosmetikbox trug sie immer persönlich mit sich! Da! Auf einem kleinen Sessel lag sie – mit kostbarem Inhalt!

Schnell zog Elaine sich das silberfarbene Köfferchen heran, klappte es auf und suchte nach einer ganz bestimmten Seifendose. Allerdings befand sich keine Luxusseife darin, sondern ein paar Pillen – und kleine Kokaintütchen!

Schnell einen der schon lebensnotwendigen Appetitzügler eingeworfen, dann noch etwas Kokain aufs Zahnfleisch. Gleich ging es ihr besser!

Als Karsten aus dem Bad kam – nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen – streckte sie verlangend den Arm nach ihm aus. „Komm her zu mir. Ich hab schon wieder Sehnsucht nach dir.“

Lächelnd folgte er der Aufforderung. Doch als sie ihn an seiner intimsten Stelle zu streicheln begann, schob er ihre Hand fort. „Jetzt ist erst mal genug. Wollen wir uns die Stadt ansehen? Oder runter zum Strand?“

„Willst du wirklich Sightseeing machen?“

„Faro ist eine wundervolle Stadt. Sie birgt so viele kleine versteckte Kostbarkeiten. Komm, ich zeig sie dir!“

Er ist ein kleines bisschen spießig, schoss es dem Model durch den Kopf. Was interessieren mich alte Steine und Mosaike? In irgendwelche Kirchen kriegt er mich bestimmt nicht geschleppt!

„Ich … ich brauche meine Koffer“, fiel ihr auf einmal ein.

„Die stehen sicher schon bereit. Warte, ich ruf mal bei der Rezeption an.“

Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, dann war das Gepäck auf dem Zimmer. Diskret, wie man in diesem Luxushotel war, hatte der Page das Paar nicht stören wollen, nachdem niemand auf zweimaliges diskretes Klopfen reagiert hatte.

Um sich für einen kleinen Bummel zurecht zu machen, benötigte Elaine gut eine halbe Stunde. Karsten verbrachte die Wartezeit auf dem Balkon und sah hinunter zum Strand. Dort drüben war die kleine Felsformation, wo ihn Bettina gefunden hatte!

Schon wieder geisterte sie durch seine Gedanken! Es war verrückt. Völlig unverständlich! Sie war absolut nicht sein Typ.

Warum nur musste er immerzu an sie denken? Sogar jetzt noch, da doch Elaine bei ihm war?

Er riss sich erst aus seinen Erinnerungen an die spröde Fotografin, als Elaine ihre Arme von hinten um ihn schlang. „Wir können los“, meinte sie.

Während er sich umdrehte, vollführte sie eine kleine Drehung um die eigene Achse. „Nimmst du mich so mit?“

„Du siehst bezaubernd aus – wie immer. Aber in einem Modell von KORY-Moden gefällst du mir natürlich besonders gut.“

„Genau das war meine Absicht.“ Elaine trug eine schlicht geschnittene schwarze Leinenhose, dazu ein schwarzes Top mit Spaghettiträgern, dessen einziger Blickfang die Perlenstickerei am Ausschnitt war. Diese dezente Stickerei wiederholte sich bei der bordeauxroten Longbluse, die kurze Ärmel besaß und deren Kragen ebenfalls mit Perlen bestickt war.

Im Grunde war diese Jacke mehr für den Abend als für einen Stadtbummel gedacht, aber Karsten schluckte die Bemerkung, die ihm schon auf der Zunge lag, rasch wieder hinunter. Elaine wäre gekränkt – und würde sicher nochmals eine kleine Ewigkeit mit dem Umziehen benötigen.

„Hast du bequeme Schuhe an?“

„Klar doch!“ Sie hob ihr rechtes Bein spielerisch hoch. „Ballerinas.“

„Na ja, lange Märsche kannst du damit auch nicht machen.“

„Das hatte ich auch nicht vor zu tun. Einen kleinen Bummel hast du vorgeschlagen.“

Na gut, dann also ganz wenig Kultur. Er war froh, dass er schon einige Male hier an der Algarve gewesen war und sich damals alle kunsthistorischen Sehenswürdigkeiten angeschaut hatte.

Mit Elaine begann er den kleinen Rundgang beim Arco da Vila, dem Stadttor, das direkt in die Altstadt führte. „Dieses Bauwerk hat ein italienischer Renaissance-Architekt errichtet.“

„Schön.“ Sie schaute kaum hinauf zu dem kleinen Glockenturm, sah nicht die Statue des Heiligen Thomas von Aquin, den Stadtheiligen von Faro. Die schöne junge Frau strebte weiter, den belebten Geschäftsstraßen entgegen, wo sie sich mehr oder weniger begeistert die Auslagen anschaute.

Gern hätte ihr Karsten einige der vielen historischen Bauwerke gezeigt, eventuell sogar das Museu Etnografico Regional, das interessante Volkskunst und Architektur zeigte. Aber schon bei seinen vorigen Rendezvous mit Elaine hatte er erkannt, dass sich die schöne Frau außer für Mode nur noch für ihre Schönheit – und eventuell für Geld interessierte.

Und wieder fiel ihm Bettina ein. Wie sie die Vögel beobachtet hatte, wie sie sich nach dem Namen einer besonderen Pflanze erkundigte … Welten trennten diese beiden Frauen!

„Wie wärs mit einer kleinen Erfrischung? Drüben ist eine hübsche Bar.“ Schon zog ihn Elaine mit sich.

Bettina, die gerade aus einem Antiquitätengeschäft kam, wo sie sich leichtsinnigerweise eine wunderhübsche Silberbrosche gekauft hatte, stockte mitten im Schritt. Jetzt nur nicht weitergehen! Den beiden nur nicht begegnen müssen!

Noch einmal ging sie in den Laden zurück, ließ sich erneut den Ring zeigen, der zur Brosche gehörte – der aber zu teuer war, wie sie schon vorher entschieden hatte – dann endlich war die Luft rein.

So schnell es ging hastete Bettina zur Bushaltestelle und fuhr in ihr kleines Hotel draußen vor der Stadt. Dort erkundigte sie sich nach dem nächsten Flug zurück nach Hamburg.

Sie musste so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und Karsten Korten-Ryhoff legen. Er ging ihr auf die Nerven. Er war ein alberner Möchtegern-Casanova, ein leichtlebiger Mensch, den sie einfach nicht ernst nehmen durfte.

Warum, zum Teufel, schmerzte ihr Herz nur so, wenn sie an ihn und dieses schöne Model dachte?

+ + +

„Wieso ist Frau Berger nicht da?“ Nervös trommelte Karsten auf seiner Schreibtischplatte herum – eine Angewohnheit, die er von seinem Vater übernommen hatte. „Sie hatte doch vor einem Vierteljahr schon Urlaub.“

Karin Habermann lächelte verhalten. „Da war sie gerade mal zehn Tage am Tegernsee. Sie hatte dort einige Wellness-Tage gebucht.“ Karin Habermann gestattete sich jetzt ein anzügliches Grinsen. „Ich glaube sogar, dass war Ihr Weihnachtsgeschenk an sie.“

„Wellness! Annette! Als hätte sie so was nötig!“ Das Fingerkonzert wurde noch schneller. „Ich brauche sie hier! Sie kann doch nicht einfach …“

„Sie kann. Schließlich hat sie den Urlaub mit Ihnen abgesprochen. Erinnern Sie sich nicht? Das war vor Ihrem Algarve-Trip.“

„Und wo steckt sie jetzt wieder? Ich brauche sie hier!“

„Auf Sylt. Für drei Tage. Anschließend trifft sie sich mit einem kleinen Team dort, um ein paar Sonderfotos zu machen. Sie wissen doch, die Amerikaner wollten noch einige Zusatz-Modelle in ihren Katalog mit aufgenommen haben. Und wie Frau Berger sagte, war alles mit Ihnen abgesprochen.“

Das hatte er wirklich total vergessen! Im Grunde war es völlig irrsinnig, nochmals ein Shooting zu veranstalten. Sie hatten alle Aufnahmen für den Katalog fertig, sogar das Layout stand schon. Aber das Geschäft mit Übersee versprach höchst lukrativ zu werden, da musste man schon Konzessionen machen und nacharbeiten, wenn ein so potentieller Kunde es verlangte!

„Hat Jo van Aalen Zeit? Ich glaube, die Amerikaner wollten ihn unbedingt als Fotografen haben.“

„Stimmt. Aber er ist zurzeit in Moskau. Die Agentur hat aber versprochen, gleichwertigen Ersatz zu organisieren. Frau Berger hat sich schon drei Vorschlage geben lassen.“

„Na gut. Danke, Karin, ich brauch Sie jetzt nicht mehr.“

Aha, jetzt bin ich Karin, nicht sein ‚Habermännchen’. Die langjährige Sekretärin schmunzelte verhalten. Karsten war sauer, das war ihm anzusehen. Doch der Grund konnte nicht nur darin liegen, dass der Fotograf nicht greifbar war. Sicher hatte er privaten Stress. Wenn es mit dieser Elaine ist, geschieht es ihm recht, dachte sie.

Unter anderen Umständen hätte sie jetzt schnell eine SMS an Annette Berger geschickt, doch sie wusste, dass die Direktrice mit ihrem neuen Freund auf Sylt war. Dieser Dr. Fabian war wirklich ein Glücksgriff! Bei dem könnte ich auch noch mal schwach werden, dachte Karin – und riss sich im nächsten Moment zusammen. Wohin verstiegen sich ihre Gedanken? Das war albern und absurd. Die verrückten Liebesgeplänkel, die nur Unruhe ins Leben brachten, überließ sie besser anderen.

Karsten arbeitete bis spät in den Abend hinein. Immer wieder ging er die Kalkulation für einen großen Auftrag mit einer Kaufhauskette durch – und kam nicht zu dem erhofften positiven Ergebnis.

Als das Telefon klingelte, runzelte er unwillig die Stirn. „Ja bitte?“

„Mir ist fad.“ Elaine! Schon wieder! Seit sie sich in seiner Villa eingenistet hatte, tat sie so, als sei er ihr Eigentum. Wenns nach ihr ginge, müsste er ihr unentwegt zur Verfügung stehen.

„Elaine … was ist denn?“

„Sag ich doch. Ohne dich langweile ich mich zu Tode.“

„Das tut mir leid. Aber ich hab Pflichten, wie du weißt.“

„Auch jetzt noch?“ Das klang bissig.

„Ja. Auch jetzt noch. Die Tage an der Algarve … sie fehlen mir. Ich hab einfach noch zu viel aufzuarbeiten. Tut mir leid. Geh doch in mein Arbeitszimmer. Da stehen unzählige Bücher …“

„Danke. Kein Bedarf.“

Karsten seufzte. Wie hatte er auch annehmen können, eine Frau wie Elaine würde sich gemütlich in einen Sessel setzen und sich in ein spannendes Buch vertiefen können! Das passte so wenig zu ihr wie ein bequemes Hauskleid.

Noch anderthalb Stunden arbeitete er, dann fuhr er heim. Er war hungrig, doch fürs Ausgehen war es zu spät. Zum Glück hatte seine Haushälterin immer etwas vorbereitet, das er im Zweifelsfall nur in die Mikrowelle zu schieben brauchte.

Die Villa lag im Dunklen. Nur über der Haustür brannten die kleinen Lampen, die in die holzvertäfelte Überdachung eingearbeitet waren.

„Elaine? Wo steckst du?“ Als er sie in den unteren Räumen nicht fand, ging er hoch in den ersten Stock, klopfte kurz an das große Gästezimmer- keine Reaktion.

Ob Elaine in seinem Bett auf ihn wartete? Ein Lächeln huschte um seinen Mund. Sie war, was erotische Spielereien anbelangte, höchst einfallsreich.

Aber – da war niemand. Auf seinem Bett lag allerdings ein Zettel …

Bin für zwei Tage zu Freunden. Melde mich wieder. Vielleicht hast Du dann mehr Zeit für mich … Kuss – Elaine.

Kopfschüttelnd sah Karsten auf die hastig dahingeworfenen Wörter. Dass Elaine so wenig Verständnis für seine Arbeit aufbrachte, ärgerte ihn. Schließlich hatte sie ja auch einen Job, musste Termine einhalten, sich nach gewissen Vorgaben richten. Warum gestand sie ihm dies nicht auch zu? Dachte sie vielleicht, weil er selbstständig sei, könnte er machen, was er wollte?

Sie hatte ganz offensichtlich keine Ahnung, wie hart das Business war! Oder – sie wollte sich keine Gedanken machen. Das tat sie ja eigentlich nur, wenn es um die eigene Person ging. Zum wiederholten Mal machte er sich klar, dass Elaine nur eine schöne Hülle war. Wundervoll anzusehen. Ein elitäres, teures Spielzeug. Aber nicht mehr. Und wieder – im Grunde gegen seinen Willen – musste er an Bettina denken.

Karsten ging wieder hinunter in den großen Wohnraum, an den sich der Wintergarten anschloss, den seine Mutter einst hatte anbauen lassen. Hier war ihr Lieblingsplatz gewesen. Hier hatte sie gesessen, wenn sie entspannen wollte. Hatte den Ausblick auf die Alster genossen, auf die vorüberfahrenden Schiffe – und hatte mit ihm, dem kleinen Jungen, gespielt oder ihm vorgelesen.

Der Wintergarten barg wunderschöne Erinnerungen. Mit einem Glas altem Calvados in der Hand ließ sich Karsten in den Sessel sinken, in dem schon seine Mutter so gern gesessen hatte. Gedankenverloren schaute er hinaus in die Dunkelheit. Vermisste er Elaine? Fehlten ihm ihr Lachen, ihre Leidenschaft?

Nicht unbedingt …

Der Alkohol beruhigte die Nerven, schenkte Karsten die nötige Bettschwere. Er schlief tief und traumlos – und wurde von dem durchdringenden Läuten des Telefons unsanft geweckt.

Ein kurzer Blick auf die Leuchtziffern des Weckers – noch keine sieben Uhr! Einen Fluch unterdrückend griff er zum Hörer. „Korten-Ryhoff.“

„Guten Morgen, Herr Korten-Ryhoff. Hier ist Dr. Fabian. Entschuldigen Sie den frühen Anruf, aber es ist etwas Furchtbares passiert …“

+ + +

„James! Das ist eine Überraschung! Wie kommst du denn hierher?“

Der gut aussehende Amerikaner lachte. „Geschwommen bin ich nicht.“ Er umarmte Bettina herzlich. „Ich hab den Job hier von meiner Agentur angeboten bekommen. Du, ich bin zurzeit richtig gut im Geschäft. Und das verdanke ich dir.“

Bettina winkte ab. „Ach was, das ist allein dein Verdienst. Du kannst was, kannst dich bewegen, ein bisschen schauspielern … all das, was man braucht vor der Kamera.“ Sie hängte sich bei ihm ein und ging mit ihm hinüber zu den drei großen Wohnwagen, die am Ortsrand von Keitum aufgestellt worden waren. Hier war das „Zentrum“ der Fotoproduktion: Büro, Styling-Ort, Umkleidekabine.

„Als mich die Agentur anrief und fragte, ob ich in Germany einen kleinen Job annehmen würde, hab ich natürlich zugesagt. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du hier fotografieren würdest!“

Bettina lächelte. „Das hab ich vor einer Woche auch noch nicht gewusst. Aber ein Kollege hat einen Auftrag der Deutschen Botschaft in Moskau bekommen. Den konnte er einfach nicht ablehnen – und so bin ich eben hier.“

„Dabei magst du keine Modefotografie.“ Er grinste vielsagend.

Bettina grinste zurück. „Mein Konto mag sie schon. Und wir wollen ja schließlich nach Namibia, oder?“

James umarmte sie stürmisch. „Du hast es nicht vergessen! Ehrlich, darauf spar ich auch schon jeden Cent, den ich erübrigen kann.“

„Dann sind wir schon zwei.“ Bettina öffnete die Tür des größten Wohnwagens. „Komm, ich mach dich mit den Mädels bekannt, die schon da sind. Und natürlich mit Annette Berger. Sie ist Vertreterin des Auftraggebers.“

Annette war vom guten Aussehen des Amerikaners begeistert. Und von seinen formvollendet guten Manieren erst recht! „Ein irrer Typ“, flüsterte sie Bettina zu.

„Finde ich auch. Und wahrscheinlich ein gutes Dutzend von smarten Burschen in Kalifornien auch.“

Annette verdrehte die Augen. „Es ist eine Schande! Die besten Kerle sind schwul!“

Bettina lachte. „Du darfst dich nicht beklagen. Dein Andreas ist ein Traummann!“ Sie waren gestern Abend zusammen essen gewesen, und spontan hatten sich alle geduzt – etwas, das normalerweise bei Annette nicht üblich war. Sie fand, dass eine gewisse Distanz im Berufsleben angebracht war.

„Tja, der ist aber schon vergeben!“

„Na gut, dann werde ich meinen Frust einfach mal wieder mit Arbeit kompensieren.“ Bettina lachte zu ihren Worten, doch tief im Innern gestand sie sich ein, dass es genau so war. Hin und wieder floh sie förmlich in die Arbeit, damit ihr nicht so deutlich bewusst wurde, wie allein und einsam sie doch im Grunde genommen war.

Zwei Tage lang arbeiteten sie fast zwölf Stunden. Bettina bevorzugte das frühe Tageslicht, aber auch die langen Schatten des nahenden Abends fing sie ein. Das Team war perfekt, und rasch stand fest, dass es eine sehr, sehr gute Produktion werden würde.

Keitum, das ehemalige Kapitänsdorf, besaß für Sylt ungewöhnlich viel Baumbestand. Einige der alten Ulmen waren schon im 19. Jahrhundert gepflanzt worden. Bettina konnte es sich nicht verkneifen, ein paar Fotos für ihr privates Album zu machen – die knöchernen alten Bäume hatten einen ganz besonderen Reiz.

Und auch die zum Teil weit über hundert Jahre alten Häuser zogen sie wie magisch an. James, der sie am zweiten Abend begleitete, war begeistert. „So was hab ich daheim noch nicht gesehen“, gestand er. „So klein – aber wundervoll!“

Bettina lachte. „Stell dich mal dort neben die alte Haustür! Und sieh nur, was drüber steht!“

James, fast einsneunzig groß, stellte sich neben die alte, grün gestrichene Holztür, über der die Zahl 1698 prangte.

Bettina machte ein paar Aufnahmen, auch von der kleinen, bunt gefleckten Katze, die auf einmal unter einem blühenden Rosenbusch hervorkam und die beiden Fremden aus respektvoller Entfernung, aber neugierig betrachtete. Nur als James sich bückte und sie streicheln wollte, fauchte sie und zog sich in ihr sicheres Versteck unterm Rosenbusch zurück.

„Also, die steht nicht auf dich“, lachte Bettina.

„Frauen … ich sags ja immer, mit denen hab ich meine Probleme.“

Bettina hing sich die Kamera um. „Das ist das Netteste an dir – dass du über dich selbst lachen kannst“, meinte sie. „Die wenigsten Menschen sind dazu in der Lage.“

James legte den Arm um sie. „Nun tu mal nicht so, als würdest du keine netten Leute kennen. Annette und ihr Doc, zum Beispiel, sind klasse. Und auch Jenny und Olivia … Profis im Job, sympathisch und offen. Eigentlich müssten sie schon eine große Karriere gemacht haben.“

„Ach, James! Seit wie vielen Jahren bist du im Geschäft? Da zählen doch nicht nur Liebenswürdigkeit und gutes Aussehen!“

„Sorry, weiß ich ja. Aber schade ist es doch um die beiden.“

Sie waren inzwischen zu dem schönsten und größten Hotel des Ortes gekommen. Der Benen Diken Hof war ein prachtvolles Haus, ein Luxushotel, in dem der Gast nicht nur jeden Komfort genießen konnte, sondern auch das Gefühl vermittelt bekam, ein Freund unter Freunden zu sein.

Bettina hatte hier schon einmal ein paar Tage gewohnt und das Ambiente genossen. „Hier lässt es sich aushalten“, sagte sie. „Schau nur die Sprossenfenster! Und das Reetdach! Früher weideten auf der Wiese vorm Haus noch Schafe, daran kann ich mich erinnern.“

„Wollen wir auf einen Drink reingehen?“

„Gern.“ Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr. „Die anderen werden sicher schon zu Abend gegessen haben. Wir haben uns einfach zu lange hier aufgehalten.“

„Das ist doch kein Problem. Wir waren ja nicht verabredet.“ James sah sich interessiert um. „Wir könnten auch hier einen Happen essen. Ich hab schon wieder Hunger!“

Bettina lachte. „Mir ist schleierhaft, wie du deine Figur halten kannst! Immer musst du essen!“

James grinste. „Ich mach eben regelmäßig mein Fitness-Training. Solltest du auch tun.“

„Ich weiß, was du meinst … aber ich beschränke mich da lieber aufs Joggen. Und jetzt komm, gegen einen kühlen Drink hab ich jetzt wirklich nichts.“

+ + +

Hand in Hand verließen Annette Berger und Andreas Fabian die kleine Kirche von Keitum. St. Severin war eines der Wahrzeichen der Insel – eine kleine Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die auch heute noch auf die Menschen eine ganz besondere Anziehungskraft besaß. Häufig wurden hier junge Paare getraut, es fanden im Sommer Orgelkonzerte statt.

Eben hatten die beiden einer Probe beigewohnt und waren höchst beeindruckt von der Kunst des jungen Organisten.

„Wir sollten uns überlegen, hier zu heiraten“, meinte Andreas und drückte Annettes Finger ein wenig fester.

„Heiraten …“ Kopfschüttelnd sah sie ihn an. „Ich finde, es geht auch sehr gut ohne Trauschein. Wir sollten uns noch viel besser kennenlernen.“

„Ich weiß alles von dir, was ich wissen muss – dass du die Frau bist, auf die ich mein Leben lang gewartet habe.“ Er blieb stehen und nahm ihr apartes Gesicht in beide Hände. „Ich liebe dich, Annette. Mehr, als du je ahnen kannst.“

Zärtlich lächelte sie ihn an. „Ich liebe dich auch. Aber … gib mir noch ein bisschen Zeit, ja?“

„Wenns denn sein muss …“ Langsam schlenderten sie weiter, dem Dorfkern entgegen. Es wurde dämmrig, die Sonne versank eben im Westen als glutroter Feuerball.

„Ich hab ein schlechtes Gewissen“, meinte Annette nach einer Weile. „Die anderen haben sicher noch lange gearbeitet, ich aber schwänze einfach.“

„Unsinn. Bettina hat schon um sieben Uhr morgens angefangen – glaubst du wirklich, das Team ist nach einem langen Tag jetzt noch kreativ? Nein, nein“, er schüttelte den Kopf, „ich halte die Fotografin für clever genug, dass sie sich eine Pause gönnt – und den Models auch.“ Er wies zum Horizont. „Vielleicht ist Bettina ja auch allein unterwegs. Ich denke, diese Wolkenformation ist ein reizvolles Motiv.“

Die Direktrice der KORY-Werke lächelte. „Da magst du recht haben. Bettina ist eine Künstlerin, eigentlich viel zu schade, um Modeaufnahmen zu machen.“

„Es ist aber gut für euch, sie gewonnen zu haben.“

„Das stimmt. Sie hat außergewöhnliche Ideen.“ Sie drehte sich um und schaute noch einmal zu der alten Kirche hinüber. „Jeder andere hätte bestimmt die Brautmoden vor dieser Kulisse fotografiert – Bettina möchte morgen rüber in das gelbe Rapsfeld. Eine verrückte Idee, aber die Mädels sind begeistert.“

„Ich kanns mir auch gut vorstellen.“

„Natürlich … die Bräute in diesem gelben Blütenmeer … wir müssen nur sehen, dass wir frische gelbe Rosen bekommen. Oder Wildblumen in Gelbtönen.“

„Darum kümmert sich doch deine Assistentin. Jetzt schalte mal ab. Alle sind hoch motiviert, es kann gar nichts schief gehen, auch wenn die Chefin mal ein paar Stunden nicht dabei ist.“

„Chefin … das bin ich nun wahrhaftig nicht. Der Chef hat aber ja leider zurzeit anderes im Kopf als die Firma … das wäre seinem Vater nicht passiert!“

„Nun sei mal nicht so streng mit Karsten. Er ist ein kluger Mann – und wird bestimmt rasch erkennen, dass diese Elaine nicht die Frau ist, mit der ein Mann längere Zeit hindurch zusammen sein will – da mag sie noch so mit ihren Reizen locken.“

„Das sagst du!“

„Klar. Bin ja schließlich auch ein Mann. Der allerdings nur noch Augen für eine Frau hat …“ Diese Bemerkung musste mit einem langen Kuss belohnt werden.

„Komm, wir sehen zu, dass wir zu den anderen kommen. Vielleicht gehen wir alle mal ins Go-Gärtchen. Davon hat sogar schon James was gehört.“ Sie lachte. „So ein netter Kerl! Er verehrt Bettina richtig.“

„Auf seine Weise“, lächelte der Arzt.

„Macht doch nichts. Hauptsache, sie hat jemanden, der sie versteht und liebt. Egal wie.“ Sie hakte sich wieder bei ihm ein. „Weißt du, diesmal sind wir eine selten harmonische Truppe“, sinnierte sie weiter. „Wir kommen rascher voran als geplant. Und ich bin sicher, dass wir eine tolle Auswahl erzielen werden. Wenn das Geschäft mit den Amis dann endgültig unter Dach und Fach ist, könnten wir zwei ….“

Sie kam nicht dazu, auszuführen, was sie insgeheim geplant hatte, denn schon schoss ein Sportwagen in viel zu hohem Tempo um eine Kurve, schleuderte – und raste dann fast ungebremst auf das Paar zu.

+ + +

Die OP-Lampen warfen grelles, schattenloses Licht auf den Tisch. Unter sterilen grünen Tüchern fast ganz verborgen lag Annette Berger da, angeschlossen an Apparate, die ihre Lebensfunktionen aufzeichneten. Leise zischte das Narkosegerät.

„Wir können“, meldete der Anästhesist mit ruhiger Stimme.

„In Ordnung.“ Der Chirurg griff nach dem Skalpell, das ihm die OP-Schwester reichte, und öffnete routiniert den Bauchraum. Es war still im Raum, nur die leise, präzisen Kommandos des Operateurs waren zu hören. Andreas Fabian hatte bei diesem Eingriff die zweite Assistenz übernommen. Es wäre ihm unmöglich gewesen, die geliebte Frau selber zu operieren, doch er wollte auch involviert werden. Und so hatte er sich mit den Sylter Kollegen auf die zweite Assistenz geeinigt.

Schnell stand fest, dass sich der Anfangsverdacht, den schon der Notarzt ausgesprochen hatte, bewahrheitete: Annette Berger hatte eine Milzruptur, ihr Blutverlust war hoch und konnte nur durch die Entfernung des stark blutenden Organs behoben werden.

Dr. Fabian, normalerweise an der Tabula die Ruhe in Person, merkte, dass seine Hände leicht zu zittern begannen, als der Operateur jetzt die entscheidenden Skalpellschnitte setzte. Mit aller Macht riss er sich zusammen. Doch immer wieder warf er dem Anästhesisten einen prüfenden Blick zu, den der mit einem beruhigenden Kopfnicken erwiderte.

„Blutdruck stabil, Herzfrequenz o. k.“, meldete er häufiger als notwendig.

„Sie hat Glück im Unglück gehabt“, kommentierte der Chirurg, als die Milz entfernt war und er die gesamte Bauchhöhle nach weiteren Verletzungen untersucht hatte. „Die Milz hats erwischt, alle anderen Organe sind unverletzt. Und außer der Prellung an der Schulter und der leichten Beinwunde ist sie wohlauf.“ Er lächelte Andreas unter dem Mundschutz hervor zu. „Sie können ganz beruhigt sein, Herr Kollege.“

„Danke. Ich danke Ihnen allen.“ Andreas, der sich darauf beschränkt hatte, ein paar Haken und Klammern zu halten, trat vom Tisch zurück. Das Vernähen der Wunde überließen sie dem ersten Assistenten.

„Kommen Sie doch mit in mein Büro, Herr Fabian. Sicher können Sie jetzt einen Kaffee gebrauchen. Mit einem Cognac.“ Der grauhaarige Chirurg lächelte leicht. „Den sollten Sie als Medizin trinken.“ Kurz legte er Fabian die Hand auf den Arm, als sie hinüber zum Waschraum gingen, wo sie sich der grünen OP-Tracht entledigten. „Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen jetzt zumute ist. Aber – alles wird wieder in Ordnung kommen. Da bin ich ganz sicher.“

„Ja … danke.“ Andreas Fabian zog sich den Mundschutz ab. „Ich weiß. Aber … wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber sie ist die Frau meines Lebens. Und dann dieser Unfall … Was ist aus dem Sportwagenfahrer geworden? Hat man ihn geschnappt?“ Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme leicht aggressiv klang.

„Schon nach wenigen hundert Metern. Er war ziemlich angetrunken. Eventuell waren auch andere Drogen im Spiel. Das hat mir der Notarzt noch rasch sagen können. Aber sicher werden wir nachher von der Polizei Näheres erfahren.“

Wirklich stellte sich heraus, dass der junge Unfallfahrer sowohl Alkohol als auch Drogen konsumiert gehabt hatte. Der Wagen gehörte seinem Vater, einem wohlhabenden Fabrikanten, der sich zurzeit in Hamburg aufhielt.

„Da wird mal wieder jedes Klischee bedient“, murmelte Andreas. „Verwöhntes Millionärssöhnchen schlägt über die Stränge – und unbescholtene Mitmenschen müssen drunter leiden.“

„Ein Klischee, Sie sagen es.“ Der ältere Arzt schenkte den Cognac ein. „So etwas kann immer und in allen Gesellschaftsschichten passieren.“

„Ich weiß.“ Andreas trank einen Schluck Cognac. Er belebte ein wenig, beruhigte seine aufgepeitschten Nerven. Als auch der Kaffee getrunken war, stand er auf.

„Danke für alles, Herr Kollege. Jetzt würde ich gern nach Frau Berger sehen. Sie gestatten?“

„Selbstverständlich. Sicher ist sie noch auf der Wachstation. Ich bringe Sie hin.“

Schon wenig später konnte sich Andreas davon überzeugen, dass es Annette den Umständen entsprechend gut ging. Still setzte er sich neben die geliebte Frau und nahm ihre Hand in seine. Es dauerte nicht mehr lange, da kam Annette zu sich.

„Was … was ist passiert?“

„Du hattest einen Unfall.“ Er beugte sie über sie und küsste sie behutsam. „Aber alles wird wieder gut. Keine Angst.“

„Ich … ich hab keine Angst. Du musst nur … du musst Karsten anrufen.“ Die Augen fielen ihr wieder zu.

„Diese Frau … denkt zuerst an die Firma, dann erst an sich.“ Dennoch lächelte er, zeigte es doch, dass Annette ganz klar war. Ein Blick auf die Uhr – es war kurz vor Mitternacht. Und so beschloss Dr. Fabian, erst am nächsten Morgen bei Karsten Korten-Ryhoff anzurufen und ihn vom Geschehen zu unterrichten.

+ + +

„Kinder, wir machen weiter wie von Annette geplant. Ich bin sicher, dass wir ihr so am meisten helfen.“ Bettina hatte eben den Anruf aus der Klinik erhalten. Nach dem ersten Schock informierte sie das Team, und alle waren ihrer Meinung. Es half Annette nichts, wenn man jetzt in Mitleid oder gar Entsetzen erstarrte. Sicher wäre es in ihrem Sinn, wenn konzentriert weitergearbeitet würde.

„Es kann sein, dass Herr Korten-Ryhoff noch eintrifft“, schloss sie. „Andreas Fabian hat ihn angerufen – eventuell trifft er im Lauf des Tages ein.“

Sie gestand sich nur widerwillig ein, dass ihr diese Vorstellung Herzklopfen verursachte. Obwohl sie den jungen Fabrikanten für leichtfertig und oberflächlich hielt, für einen Möchtegern-Casanova und Schmalspur-Playboy – Himmel, diese Bezeichnungen hatte sie nur in Stunden höchster Wut für ihn gefunden, doch jetzt zuckten sie wieder durch ihren Sinn – er war nun mal der Auftraggeber. Und mit ihm hatte sie demzufolge zu arbeiten.

Kurz nach Mittag traf er wirklich ein. „Viele Grüße von Annette Berger“, richtete er aus. „Sie ist schon wieder auf einem normalen Zimmer und wünscht sich, dass das Shooting weitergeht.“

„Klar doch. Das haben wir schon so abgemacht“, erklärte Carina, ein blondes Model mit superlangen Beinen und einem aparten Puppengesicht. „Ich freu mich, dass Annette wieder gesund wird.“

„Ich bin auch sehr erleichtert.“ Karsten trat zu Bettina. „Hallo. Da sehen wir uns eher wieder als gedacht.“

„Es ist wohl nicht zu vermeiden.“ Sie wandte sich wieder ihrer Fotoausrüstung zu, tat so, als sei er gar nicht vorhanden. Ruhig gab sie dem Team ihre Anweisungen.

Es passierte nicht mit Absicht – zumindest hätte Bettina es vehement bestritten, wenn man es ihr unterstellt hätte – dass sie James häufiger ansprach. Sie lächelte ihm zu, ging hin und wieder zu ihm und richtete seine Sachen, was nun wirklich nicht zu ihren Aufgaben gehörte.

Karsten registrierte es – und biss sich so fest auf die Lippen, bis er einen kleinen Blutstropfen schmeckte. Dieses Biest! Legte sie es darauf an, ihn zu provozieren? Das würde ihr nicht gelingen! Nicht, indem sie mit diesem Beau flirtete! Warum hatte man den überhaupt gebucht? Gab es in Europa nicht genug gut aussehende Jungs? Musste man da einen Ami nehmen?

Es gab nur ein Mittel gegen Frust: Kritik! Und Karsten begann zu kritisieren: an den Positionen der Models, an den Frisuren, an der Location, die Bettina ausgesucht hatte.

„So geht das doch nun wirklich nicht, Bettina!“ Seine Stimme klang hart. „Der Hintergrund ist viel zu fad. Da drüben sollten Sie die Aufnahmen machen, vor den alten Häusern.“ Oder: „Ich weiß wirklich nicht, warum gerade diese Perspektive optimal sein soll. Ich denke eher, dass dort drüben die Positionen günstiger wären.“ Er ging sogar so weit, die Zusammenstellung der Kleidungsstücke in Frage zu stellen.

Bettina biss sich auf die Lippen. Nein, sie würde sich nicht provozieren lassen! Wenn er Streit wollte – bitteschön, aber nicht mit ihr. Den Gefallen würde sie ihm unter keinen Umständen tun!

Es war dann die Visagistin, die sich mit Karsten anlegte. Als er sogar an ihrem Styling zu mäkeln begann, riss Marie-Claire der Geduldsfaden. „Das reicht jetzt“, fauchte sie Karsten an. „Nur weil Sie sich einbilden, alles hier zu bezahlen, müssen Sie nicht total ungerechtfertigt an allem Kritik üben. Das ist einfach lächerlich!“

„Sie benehmen sich lächerlich“, gab Karsten ebenso erregt zurück. „Außerdem bilde ich mir nicht ein, alles zu bezahlen, ich tue es – unter anderem Ihr Honorar.“

„Das reduziert sich – ab sofort. Ich bin gleich weg!“ Schon warf sie die Rundbürste, mit der sie einem der Mädchen gerade die Haare neu hatte föhnen wollen, in die Ecke des Wohnwagens. Ein paar Haarspangen folgten. Dann verließ Marie-Claire den Wagen, hastete mit langen Schritten hinüber zu einem kleinen Waldstück, hinter dem dann der Strand lag.

„Gratuliere. Das war richtig gut.“ Bettina, die die lautstarke Auseinandersetzung mitbekommen hatte, weil sie vor dem Wohnwagen zusammen mit James und seinem Kollegen Ben eine Kaffeepause machte, nickte Karsten Korten-Ryhoff ironisch zu. „Ohne Visagistin und Stylistin können wir einpacken.“

„Wenn Sie fotografieren, ist es wohl sowieso besser, wir brechen ab.“ Damit hastete er davon, hinüber zu dem schnittigen Leihwagen, den er sich am Flughafen gemietet hatte.

Klar doch, unter einem Cabrio einer Luxusmarke tut er’s nicht, schoss es Bettina durch den Kopf. Er braucht jedes denkbare Statussymbol. Armseliger Typ!

Und doch … er beherrschte ihr ganzes Denken, seit er in ihrer unmittelbaren Nähe war.

James trank seinen Kaffee aus und stellte sich grinsend neben sie. „Der stirbt ja fast vor Eifersucht!“

„Wie bitte?“

„Sag mal, bist du blind? Oder wo sind deine Antennen geblieben? Karsten Korten-Ryhoff würde mich liebend gern eigenhändig erwürgen – weil er sich einbildet, dass du und ich …“ Er lachte leise. „Na ja, ich bin eben ein guter Schauspieler, du hast es ganz richtig erkannt.“

„Du bist total verrückt!“

„Absolut nicht. Ich weiß genau, dass er sich in dich verknallt hat. Und du dich in ihn.“

„Ach was!“

„Natürlich! Versuch es gar nicht erst zu leugnen, ich glaub dir sowieso nicht. – Und jetzt wechseln wir den Standort. Du gehst mit den Mädels rüber zum Strand, ich laufe Marie-Claire nach. Die kriegt sich wieder ein, bestimmt.“

„Aber …“

„Lass mich mal machen, ja?“ Und schon rannte er los.

Was blieb Bettina anderes übrig, als seinem Vorschlag zu folgen? Wenn sie wieder ein bisschen Ruhe in die Truppe bringen wollte, war es wohl wirklich am gescheitesten, für den heutigen Tag einen letzten Szenenwechsel vorzunehmen.

„Bis Marie-Claire wieder zurück ist, müssen wir allein klarkommen“, sagte sie. „Nina, lass deine Haare einfach offen. Und zieh das gelbe Strandkleid an. Und du, Carina, nimm den goldfarbenen Bikini mit dem schwarz-goldenen Pareo – fürs erste muss das reichen. Kommt, wir fahren schon mal die paar Meter zum Strand. Ben, hilfst du mir mit dem Aufheller und der Fototasche?“

Nicht nur Ben fasste mit an, alle waren bestrebt, das Shooting zu einem guten Abschluss zu bringen. Sie würden es Karsten Korten-Ryhoff zeigen!

Der hätte sich am liebsten in den Hintern gebissen vor Wut – auf sich. Und auf diesen Schönling James. Und natürlich auf Bettina, die sich mit dem Ami eingelassen hatte. Wie kam sie dazu? Wusste sie nicht, dass er sie …

Hallo, was denkst du da?, fragte er sich und blieb abrupt stehen. Wie orientierungslos sah er sich um, und als er eine kleine Teestube entdeckte, fand er, dass eine Tasse Tee nicht schaden könnte. Vielleicht normalisierten sich seine Gedanken dann wieder. Denn die gingen im Moment in eine ganz und gar verquere Richtung. Er und in diese selbstherrliche Bettina Gehrmann verliebt – so ein Unsinn!

Und schon stand ihr Bild wieder vor seinem geistigen Auge: ein oval geschnittenes Gesicht mit graublauen Augen. Darüber fein geschwungene Brauen, die sich so spöttisch nach oben verziehen konnten. Hellbraune, schulterlange Haare. Ganz offensichtlich mit Naturlocken, denn immer passierte es, dass sich ein paar kleine vorwitzige Strähnen in ihre Stirn verirrten – zarte Locken, die er gern zur Seite gewischt hätte, um das klare Gesicht besser sehen zu können. Und dann der Mund …

„Du bist verrückt!“ Laut ausgesprochen, hatte es hoffentlich die Wirkung, ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen. Und die sah nun mal so aus, dass er diese Bettina ätzend fand. Sie ihn wahrscheinlich auch – erst recht nach seinem Auftritt eben.

Das war total daneben, gestand Karsten sich ein.

Aber jetzt war es zu spät. Er hatte – eifersüchtig, wie er war – weit übers Ziel hinausgeschossen und sich blamiert.

Ja, es ließ sich nicht leugnen: Er war eifersüchtig!

Der Tee schmeckte schal, er ließ ihn stehen, legte einen Schein auf den Tisch und hastete wieder hinaus. Zurück zu den drei Wohnwagen, die jedoch leer waren. Bis auf den größten. Hier zogen sich gerade James und sein Kollege Ben um.

„Wo sind die anderen?“, fragte Karsten knapp.

„Unten am Strand. Bettina möchte das letzte Licht ausnützen“, antwortete Ben. James hingegen puderte sich angelegentlich das Gesicht, kämmte sich – und ignorierte den anderen geflissentlich.

Zögernd blieb Karsten in der Tür stehen. „Ich … es tut mir leid“, presste er hervor.

„Schon gut.“ James grinste. „Sie sollten drüben ein paar von den wilden Rosen pflücken. Die mag Bettina besonders gern.“

„Wenn Sie es sagen …“

James zupfte sich ein paar Haare in die Stirn. „Genau. Ich sag Ihnen noch mehr: Bettina und ich … wir sind Freunde. Seit New York. Da hat sie mir aus einer großen Patsche geholfen. Durch sie hab ich nicht nur einen tollen Job gefunden, sondern auch meinen Freund – Sie verstehen?“ Er zwinkerte Karsten zu, dann ging er an ihm vorbei in Richtung Strand. Ohne sich umzusehen, wies er zu einer kleinen Hecke, an der wilde hellrote Rosen blühten.

So weit kommt es noch, dass ich Rosen klaue und hinter einer Frau herlaufe! Karsten ging zu seinem Wagen zurück. Aber er fuhr nicht los, sondern legte den Kopf in den Nacken und sah hoch zu den kleinen weißen Wolken, die immer rascher am Himmel vorüber zogen. Doch mit der Zeit wurden die Wolkenformationen immer größer, der Abstand zum blauen Himmel weniger. Etwas Rotgold mischte sich in die violetten Töne, wurde schwächer und schwächer.

Und dann, von einem Moment zum anderen, sank die Dämmerung herein. Wind vom Meer brachte kühle Luft.

Als Karsten hörte, dass das Team zurückkam, startete er den Motor und fuhr davon. Aber schon nach einigen hundert Metern hielt er wieder an. Vor ihm erstreckte sich eine hohe Hecke wilder Rosen. Hier, an einer Stelle, wo ihn niemand beobachten konnte, überwand er sich und pflückte einige der zarten Blüten. Dass er sich an den spitzen Dornen stach, war beinahe schon folgerichtig – aber da, wo er normalerweise geflucht hätte, lächelte er jetzt unterdrückt. Diese Rosen … sie passten wirklich zu Bettina: Zart und wunderschön, aber eben auch Schmerz verursachend …

Himmel, er wurde ja richtig poetisch!

Rasch legte er die Blumen auf den Nebensitz, dann lenkte er den Wagen in Richtung Strand zurück. Der geschützte Abschnitt war leer, vom Team keine Spur mehr. Aber da … hinter einer kleinen Düne kam Bettina!

Langsam, mit gesenktem Kopf ging sie zum Wasser, bückte sich, schlenderte weiter.

Noch ein Zögern, dann gab sich Karsten einen Ruck. Als er nach den Rosen greifen wollte, stach er sich schon wieder. „Verdammt!“ Den kurzen Schmerz ignorierte er, eilte auf die schlanke Gestalt zu, die ihn noch nicht bemerkt hatte.

„Bettina, ich …“ Er biss sich auf die Lippen. „Es tut mir leid.“

Mein Gott, wir sind doch nicht am Eismeer, sondern an der Nordsee, schoss es ihm durch den Kopf, als er ihren kühlen Blick registrierte.

„Ach ja, es tut Ihnen leid! Wie schön! Und wie nützlich!“

„Verdammt, jetzt hören Sie endlich auf mit Ihrer Ironie. Ich weiß ja, dass ich mich wie ein Trottel benommen habe!“ Er hielt ihr die Röschen entgegen. „Hier. Selbst geklaut.“

Wie schön sie war, wenn sie lächelte! Es war, als würde der Wolkenhimmel aufreißen.

„Danke. Das sind meine Lieblingsblumen.“

„Ich weiß.“

Überrascht sah sie ihn an. „Woher denn?“

„Von James.“ Er legte die Hände auf ihre Schultern, zog sie näher zu sich. „Er hat mir auch gesagt, dass ihr Freunde seid – nur Freunde.“

„Wie interessant für Sie!“ Es sollte ironisch klingen, doch Bettinas Stimme klang leise und ein wenig heiser.

„Ist es. Wirklich. Und zwar deshalb.“ Er küsste sie. Lange. Zärtlich. Dann, als sie sich ganz spontan ein wenig mehr an ihn schmiegte, voller Leidenschaft.

Zwei, drei Sekunden lang schien die Welt still zu stehen. Dann machte sich Bettina mit einem Ruck los. „So eine Frechheit“, zischte sie. „Wollen Sie mich in die Sammlung einreihen?“ Sie warf die Rosen ins Wasser und rannte davon.

Nur für ein, zwei Atemzüge lang war Karsten irritiert, dann spurtete er ihr nach. „So bleib doch endlich stehen!“ Sie war verdammt schnell, er musste ein bisschen zulegen. Und merkte, dass seine Kondition leider ziemlich zu wünschen übrig ließ. Jedenfalls wurde der Abstand zwischen ihnen immer größer.

„Bleib stehen! Bettina – ich liebe dich!“ Hatte er das wirklich und wahrhaftig laut durch die Gegend gebrüllt? Karsten war selbst erschrocken.

Nicht minder Bettina. Mit einem Ruck blieb sie stehen.

Karsten keuchte ein bisschen, als er endlich bei ihr war. Nicht gerade förderlich für das, was er jetzt gern sagen und tun würde …

Aber sie machte es ihm leicht. Langsam, langsam drehte sie sich um. „Was hast du gesagt?“ Ihre Augen waren ganz dunkel auf einmal. Wie Enzian. Himmel noch mal, er befand sich doch nicht in einem Kitschroman! Oder dachte man so was, wenn man wirklich und wahrhaftig verliebt war?

Nein, er hatte einfach keine Zeit, darüber nachzudenken. Fest schloss er Bettina in die Arme.

Der Kuss dauerte eine Ewigkeit. Erst hielten sie sich fest, dann sanken sie in den feuchten, aber noch sonnenwarmen Sand.

Als Bettina wieder klar denken konnte, sah sie sich erst einmal um – nein, es war niemand in der Nähe. Zum Glück! Wie peinlich, sich hier im Sand herumzuwälzen wie Teenager!

Aber … ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Schön war es doch gewesen. Sehr schön sogar!

„Wir sind verrückt, was?“ Karsten sprach es aus.

„Stimmt. Aber das lässt sich ja schnell wieder ändern.“ Sie sprang auf, zog die Bluse wieder zurecht und klopfte sich ein paar Sandkörner von den Jeans.

„Hey, so war das nicht gemeint.“

„Wie denn?“ Schon wieder dieser Alaska-Blick!

Er griff nach ihren Händen, zog sie näher zu sich. „Ich wollte sagen, dass ich mich ganz wahnsinnig in dich verliebt habe. So, dass ich alles um mich rum vergessen hab. Das ist mir zuletzt mit sechzehn passiert.“

„Mir auch. Aber ich war schon achtzehn.“

„Du bist eben vernünftiger als ich.“

„Reifer – und eben eine Frau.“

„Meinetwegen. Wenn du drauf bestehst, die Klügere zu sein …“ Sein Griff wurde fester, sein Kopf kam ihrem Gesicht wieder näher. „Mir ist es total egal. Wichtig ist nur, dass du mich auch magst.“

„Hmm.“ Mehr sagte sie nicht. Ging auch gar nicht, denn dieser Kuss dauerte wieder eine Ewigkeit.

Die Wolken am Himmel wurden bedrohlich größer, dunkler. Und der Wind, eben noch ein mildes Lüftchen, wurde heftiger, zerrte an der Kleidung, ließ sie jetzt trotz aller Leidenschaft frösteln.

„Komm mit. Hier wird es zu ungemütlich.“

Es bedurfte keiner Frage – sie fuhren zu Karstens Hotel. Kaum hatte er den Sportwagen auf den Parkplatz gestellt, klatschten die ersten Regentropfen zur Erde. Der Himmel wurde fast schwarz – dann brach ein Unwetter herein, wie es Bettina nie zuvor erlebt hatte.

„Wir müssen uns um das Team kümmern.“ Es war gar nicht leicht, gegen das Unwetter anzuschreien.

„Unsinn. Das sind alles erwachsene Menschen. Die Klamotten und deine Ausrüstung sind doch weggeräumt, oder?“

Sie nickte nur – und zuckte zusammen, als von fern der erste Donner grollte.

Karsten lächelte zärtlich. Bettina zeigte eine Schwäche – bezaubernd! „Komm schnell, sonst werden wir patschnass, bis wir im Haus sind.“

Aber das wurde sie auch so, obwohl sie rannten. Doch als sie die Hotellobby betraten, waren sie bis auf die Haut durchnässt.

„Kein Problem“, meinte Karsten. „Das trocknet schnell wieder.“

Außerdem – schon fünf Minuten später brauchten sie keine Kleider mehr. Kaum in Karstens Suite angekommen, fielen sie sich wieder in die Arme. Und während sie sich gegenseitig auszogen – mit fast ungläubigem Staunen in den Gesichtern, weil sie es kaum glauben konnten, was hier geschah – tobte draußen ein Unwetter über die Insel, wie man es sonst nur in späten Herbsttagen erlebte.

Erst Stunden später, das Unwetter war abgezogen, kamen sie wieder zu sich. Mit weit ausgestreckten Armen lag Karsten im Bett, drehte leicht den Kopf und sah Bettina zärtlich an. „Jetzt brauche ich Champagner.“

„Der ist immer gut.“ Sie erhob sich leicht. „In so einer vornehmen Suite befindet der sich sicher in der Bar.“

„Du sagst es!“ Er schwang sich hoch. „Ich mach das schon.“

„Und ich rufe mal bei James an, ob alles in Ordnung ist.“

Prompt runzelte Karsten die Stirn. „Braucht er ein Kindermädchen?“

Bettina stützte sich auf den linken Arm und sah ihm zu, wie er die Flasche öffnete und zwei Gläser füllte. „Du bist eifersüchtig auf einen Homosexuellen – albern!“

„Ich weiß.“ Er grinste und hielt ihr ein Glas hin. „Ich bin auch zum ersten Mal … na, du weißt schon.“ Er trank sein Glas in einem Zug leer.

„Wolltest du sagen – verliebt? Das Wort scheint dir wirklich nicht über die Lippen zu gehen. Typisch Casanova.“

„Was weißt du schon …“ Karsten setzte sich aufs Bett und starrte in sein Glas. Er war selbst überrascht von der Heftigkeit seiner Gefühle. Natürlich, es hatte ihn von Anfang an gereizt, Bettina zu erobern. Sie war auf eine ganz besondere Art schön – nicht so glatt und aufreizend wie die Schönheit von Elaine, zum Beispiel. Aber sie war apart. Ihre Augen … wie Seen. Die Wimpern unendlich lang. So was hatte er mal bei einem Baby gesehen. Verrückt, dieser Vergleich, aber er stimmte.

Und im Bett … Himmel, das hätte er nie gedacht!

„Gibst du mir noch einen Schluck?“ Ihre Stimme schreckte ihn auf.

„Natürlich. Sofort.“ Er registrierte mit Entsetzen, dass seine Hand leicht zitterte, als er ihr den Champagner eingoss.

Bettina sah es auch, sagte aber nichts. Langsam, in kleinen Schlucken, trank sie ihr Glas aus. Es wirkte so, als müsse sie sich – und Karsten – eine Galgenfrist verschaffen. Als er nichts sagte, stand sie auf und holte ihr Handy aus der Tasche.

„James … alles in Ordnung bei euch?“

„Sicher doch. Die Mädels haben an der Bar gesessen und sich von einigen Touristen über das Unwetter hinwegtrösten lassen. Ben und ich haben uns an Whiskey gehalten. Marie-Claire ist übrigens nicht abgereist. Sie sitzt glaub ich, immer noch mit einem der Jungs zusammen und diskutiert über die Vor- und Nachteile einer Kreuzfahrt. Ich glaube, ihr Verehrer hat ne Yacht und will sie zu einem Trip überreden. Also – alles in bester Ordnung. Bei dir auch, meine Süße?“

„Ja … doch …“

„Das klingt nicht nach rosaroter Wolke oder siebtem Himmel. Was hat der Kerl mit dir gemacht? Ich werde ihn zum Duell fordern.“

„Du bist ein Verrückter. Aber es ist wirklich alles in Ordnung. Dank dir – und gute Nacht.“ Ehe James noch etwas sagen oder gar lästern konnte, beendete sie das Gespräch.

„Du bist als Kindermädchen wohl nicht mehr gefragt heute, oder?“ Er wusste, dass es falsch war, das zu sagen, aber Karsten konnte einfach nicht aus seiner Haut. Seine Gefühle fuhren Achterbahn. Er konnte nicht mehr klar denken. Da war diese starke Leidenschaft für Bettina. Und die Erinnerung an Elaine … und so viele andere schöne Frauen, die ihn zwar kurzfristig gereizt, aber nie so stark emotional berührt hatten wie Bettina. Es war wie verhext – seit er sie kannte, beherrschte sie sein Denken. Auch, wenn er es nicht zugeben wollte und verflucht viel dazu getan hatte, sie zu vergessen.

Vergebens …

„James kommt klar. Ob das bei dir auch der Fall ist – das ist wirklich fraglich. Ich jedenfalls hör mir deinen Unsinn nicht länger an.“ Schon war sie aufgestanden, raffte ihre noch feuchten Klamotten auf und verschwand im Bad.

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Sie war blass, tief Schatten lagen unter ihren Augen, doch ihr Lächeln war voller Liebe. „Schön, dass du da bist. Was … was ist mit mir?“

Andreas Fabian beugte sich über Annette. „Du hattest einen Unfall … erinnerst du dich?“

Kurzes Stirnrunzeln. „Ja … dieser Sportwagen … er kam direkt auf uns zu.“

„Und hat dich erwischt.“ Andreas nahm ihre rechte Hand, in der keine Infusionsnadel steckte, und küsste jede einzelne Fingerspitze. „Ich bin so froh, dass dir nicht noch mehr passiert ist!“ Er biss sich kurz auf die Lippen. „Zum ersten Mal im Leben war ich versucht, einen anderen Menschen zusammenzuschlagen. Dieser unreife Kerl … hat seinem Vater den Wagen gestohlen und eine Spritztour gemacht. Natürlich ohne Führerschein. Und du bist sein Opfer geworden.“

„Was hab ich denn?“ Ängstlich sah Annette Berger ihn an. Dass man sie operiert haben musste, war klar. Sie hatte schon den Verband ertastet. Und ihre Schulter war bandagiert, sie konnte sich kaum bewegen. Dass sie Schmerzmittel bekam, war auch logisch – die Infusionsflaschen sprachen dafür.

„Keine Angst, es ist nicht allzu schlimm“, meinte Andreas beruhigend. „Wir mussten dir die Milz entfernen. Außerdem hast du das Schlüsselbein angebrochen und ein paar Prellungen. Nicht dramatisch, aber leider schmerzhaft.“

„Die Milz … man braucht sie nicht, oder?“

„Nein, nicht unbedingt. Aber weil sie so stark durchblutet ist und bei einer Verletzung gravierenden Blutverlust verursacht, haben wir das Organ rausgenommen.“ Er lächelte aufmunternd. „Glaub mir, ich liebe dich auch ohne Milz.“

„Tröstlich.“ Ein kleines Lächeln, das noch nicht ihre Augen errichte, glitt über das blasse Gesicht. „Ich bin wahnsinnig müde. Bleibst du noch ein bisschen?“

„Aber ja. Schlaf dich ruhig aus. Das sind die Nachwirkungen der Narkose.“ Er küsste sie liebevoll. „Ich soll dich übrigens von allen grüßen. Drüben stehen schon Blumen von Karsten Korten-Ryhoff. Er wünscht im Namen des ganzen Teams gute Besserung.“

Annette wandte kurz den Kopf und sah den herrlichen Strauß verschiedenfarbener Rosen auf einem kleinen Tisch am Fenster stehen. Dann fielen ihr die Augen wieder zu.

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